Qualität familienrechtlicher Gutachten
- Anmerkungen zur Qualität und zur Qualitätsdebatte
Vorab eine Literaturempfehlung:
Uwe Tewes (2016): Psychologie im Familienrecht - zum Nutzen oder Schaden des Kindes?
Uwe Tewes entwickelt mit viel Empathie insbesondere Ratschläge für Eltern, welche durchaus auch sehr nützlich für tätige Fachkräfte im familiengerichtlichen Kontext sein können. Die Publikation ist darüber hinaus sehr hilfreich als kritische Zustandsanalyse. Meine Rezension ist zu finden unter: https://www.socialnet.de/rezensionen/20938.php .
Die Bundesregierung
hat 2016 mit dem "Gesetz zur Änderung des Sachverständigenrechts und zur weiteren Änderung des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen .... " einige Anpassungen vorgenommen, um auf die zunehmende Kritik am Gutachterwesen, insbesondere bzgl. medizinischer und familienrechtlicher Gutachten, zu reagieren.
Auf einer Website des BMJV findet sich eine Dokumentation des Gesetzes, der Referentenentwürfe und ca. 60 Stellungnahmen von Verbänden. Zur
Website des BMJV
.
Einzelne Regulierungen des Gesetzes betreffend des Verhaltens von Sachverständigen (Einhaltung von Fristen, Bekundung einer möglichen Befangenheit, "Zwangsgelder") mögen öffentlichkeitswirksam, manchmal (eher selten) im Verfahren auch hilfreich sein. Hilfreich kann für manche Betroffene die Einführung der Beschleunigungsrüge (§ 155b FamFG) und der Beschleunigungs-beschwerde (155c FamFG) sein.
Neu gestaltet wurde §163.1 FamFG. Hier werden berufliche Voraussetzungen für eine Bestellung zum Sachverständigen im Familienrecht geregelt:
§163.1 FamFG, Sachverständigengutachten
(1) In Verfahren nach § 151 Nummer 1 bis 3 ist das Gutachten durch einen geeigneten Sachverständigen zu erstatten, der mindestens über eine psychologische, psychotherapeutische, kinder- und jugendpsychiatrische, psychiatrische, ärztliche, pädagogische oder sozialpädagogische Berufsqualifikation verfügen
soll.
Verfügt der Sachverständige über eine pädagogische oder sozialpädagogische Berufsqualifikation, ist der Erwerb ausreichender diagnostischer und analytischer Kenntnisse durch eine anerkannte Zusatzqualifikation nachzuweisen.
Ob diese Regelung gelungen ist, sei einmal dahingestellt. Der damalige Referentenentwurf stellte die erwähnten Berufsgruppen gleich und forderte (lediglich), dass die Sachverständigenauswahl im Beweisbeschluss zu begründen sei.
Das Gericht, im besten Fall im Einvernehmen mit den Parteien, hat jedoch Handlungsfreiheit. Das OLG Zweibrücken stellte fest:
"§ 163 Abs. 1 FamFG ist als Soll-Vorschrift ausgestaltet, um der Praxis die Möglichkeit zu geben, auch abweichend von den darin angegebenen Berufsqualifikationen einen gleichwohl geeigneten SV beauftragen zu können (vgl. Bahrenfuss/Schlemm, FamFG, 3. Aufl., § 163 Rz. 6)." Zitiert nach: FamRZ; 2018, Heft 3, S. 199 f.
Hilfreich war vielleicht die Anhebung des Qualifikationsniveaus von FamilienrichterInnen, vgl. §23b Gerichtsverfassungsgesetz (GVG). Insbesondere sollen sie über rechtliche Kenntnisse des Familien-, Kindschafts- und Verfahrensrechts verfügen (!), über Grundkenntnisse der Psychologie und der Entwicklungspsychologie und der Kommunikation mit Kinder verfügen. Na ja, die Erwartung scheint keineswegs übertrieben ...
Eine Evaluation der Gesetzesnovellierung ist mir nicht bekannt. Die Anzahl von familiengerichtlichen Verfahren und die Beauftragung von Gutachten dürfte weiterhin progressiv sein. Es scheint zunehmend schwierig zu sein, qualifizierte Sachverständige zu gewinnen. Trotz eines Stundenhonorars von 120 € netto (vgl. Regelungen des JVEG) stellt sich diese Arbeit als herausfordernd bei unsicherer wirtschaftlicher Perspektive dar - berufserfahrene Sachverständige scheinen gerne in andere Berufsfelder (z.B. psychotherapeutische Praxen) zu wechseln.
Insofern bleibt unklar, ob sich die Verfahrensführung der Familiengerichte und die Gutachtenqualität positiv entwickeln. Für Eltern ohne Verfahrenskostenhilfe stellen die Verfahrenskosten, insbesondere die Gutachtenkosten von häufig 8.000 bis 10.000 €, ein erhebliches Problem dar - zumal, wenn mehrere Gutachten beauftragt werden ... Daneben fallen außergerichtliche Kosten für Rechtsanwälte, die Einholung fachlicher Stellungnahmen etc. an. Parallel zur familiären bzw. Trennungsbelastung werden die Ressourcen (Zeit, Geld, Energie) also häufig erheblich belastet.
Handlungsbedarf - einige Thesen ...
1. Die Anbahnung und der Erhalt von Umgangskontakten ...
mit dem nicht haupterziehenden Elternteil stellt weiterhin eine große Herausforderung für Familiengerichte und Sachverständige dar. Auch renommierte Sachverständige sind mir im Rahmen meiner Privatgutachten / Expertisen durch erstaunliche Hilf- und Handlungsunfähigkeit aufgefallen. Häufig lässt sich wohl feststellen: Ein Mangel an Auseinandersetzung mit den Eltern (Konzeptionslosigkeit in der Arbeit mit strittigen bzw. hochstrittigen Eltern bei Sorgerechts- und insbesondere bei Umgangskonflikten), eine ungewöhnlich lange Begutachtungsdauer mit deutlicher Überschreitung auch gesetzter Fristen und eine unzureichend stringente Fallführung durch Familiengerichte.
Eine m.E. weiterhin relevante Diskussion kindlicher Kontaktverweigerung findet sich in der Dissertation von Dr. Katharina Behrend (2009) - download unter https://pub.uni-bielefeld.de/publication/2301270. Im Rahmen ihrer "Typologie der Umgangsverweigerung" zeigte sie drei Faktoren auf:
Hierbei handelt es sich zweifelsohne um ein grobe Kategorisierung. Weiterführende Hinweise auf Motivationen von Kindern in Nachtrennungsfamilien fanden sich bereits bei:
Je nach Perspektive können interessant sein:
Aktuell ist in der ZKJ ein scharfer Angriff von Zimmermann et al. gegen Baumann et al. zu finden:
Meine erste Einschätzung zu dieser Kontroverse:
Die Autorengruppe um Zimmermann übt ungewöhnlich erscheinende scharfe Kritik an dem Artikel von Baumann et al. Vorgeworfen wird der Autorengruppe um Baumann, dass diese sich am Konzept von Gardner, also dem Parental Alienation bzw. Parental Alienationssyndrom, orientieren - bereits der Begriff der "Eltern-Kind-Entfremdung" sei überholt. Am Naturrecht orientierte gesetzliche Vermutungen (insbesondere: Der Erhalt der Beziehungen zu beiden Elternteilen entspricht dem Kindeswohl) könnten durch die Sozialwissenschaften nicht einfach übernommen werden - Ursachen für "Kontaktprobleme und Kontaktverweigerung" seien vielfältig und müssten entsprechend diagnostisch berücksichtigt werden. Von Baumann et al. erklärend dargestellte Loyalitätskonflikte von Kindern und Jugendlichen seien nicht hinreichend, ihre Annahme schwerer psychosozialer Folgen einer Entfremdung / eines Kontaktverlustes sei unzulässig generalisierend.
Die Kritik ist meines Erachtens, wenn auch teils berechtigt, völlig überzogen und verkennt das primäre Anliegen von Baumann et al., Vorschläge für die Praxis und damit eines zeitnahen Einwirkens bei drohender Entfremdung / eines Kontaktverlustes zu entwickeln.
2. Strittige Konstellationen von Nachtrennungsfamilien
Konfrontiert mit dem konkurrierenden Streit der Eltern scheinen nicht wenige "Sachverständige" Mühe zu haben, eine objektive Perspektive bzw. neutrale Haltung einzunehmen. Die Konstruktion der Nachtrennungsfamilie (vgl. Fthenakis u.a., 2008: Die Familie nach der Familie) kann als eigentliches Ziel familiengerichtlicher Verfahren angesehen werden.
Einige grundlegende Fachbücher scheinen mir noch immer darauf angelegt zu sein, auch geringgradige Unterschiede von Erziehungsfähigkeit zu identifizieren (z.B. Dettenborn & Walter 2022: Familienrechtspsychologie). Damit wird das klassische Nachtrennungsmodell (Vater als Freizeitgestalter; Mutter als Alleinerziehende) favorisiert.
3. Diagnostik in der Begutachtung - Stigmatisierung von Eltern
Klinische Psychologen, Psychotherapeuten und Psychiater sind darin geübt, Diagnosen nach ICD 10, insbesondere zu psychischen und Verhaltensstörungen der F-Gruppe, zu stellen und eine Behandlungsplanung abzuleiten. Die Folgen können erheblich sein. Häufig finden sich sehr einseitig negative Beschreibungen eines Elternteils, welche eine Psychopathologie zumindest nahelegen. Beliebt ist, die Erziehungsfähigkeit eines Elternteils z.B. wegen früherer depressiver Phasen oder einer Überlastung während der Ehezeit, als beeinträchtigt darzustellen.
Teils finden sich auch Feststellungen derart, dass beispielsweise ein Münchhausen-by-Proxy-Syndrom "nicht auszuschließen" sei. Jüngst wandte sich eine Mutter an mich: Die Äußerung eines psychologischen Sachverständigen, er könne einen Mitnahmesuizid "nicht ausschließen", führte zu einer umgehenden Unterbringung durch familiengerichtlichen Beschluss.
Ich kann auch vieles nicht ausschließen ... Wirkungen und Nebenwirkungen von Gutachten können beträchtlich sein.
Ob die nun bekundeten Fortbildungs- und Qualifizierungsbemühungen für Richter, Sachverständige und andere Fachkräfte tatsächlich Wirkung entfalten, sei einmal dahin gestellt.
4. Psychologie als Disziplin und Profession
Anlehnend an Paul Feyerabend kann unterstellt werden: Die Psychologie als Wissenschaft ist der "philosophischen Hundehütte" von Sir Karl Popper verhaftet geblieben. Formalismen und testpsychologische Methoden prägen das Bild. Insofern stellt sich die Frage, ob Psychologen der Begegnung mit komplexer Alltagsrealität gewachsen sind.
Weitere Mängel der Qualifikation psychologischer Sachverständiger sind: fehlende Kenntnis (sozial-) pädagogischer Methoden, der Funktionsweise von Hilfesystemen wie insbesondere der Jugendhilfe und hierbei des praktischen Kinderschutzes.
Mir als Soziologen fällt noch auf, dass sich viele Sachverständige der normativen Wirkung ihrer Arbeit nicht bewusst zu sein scheinen. Zur sogenannten "Bindungstheorie" wäre noch einiges beizutragen ... Psychologische Sachverständige bekommen bei der Erwähnung nicht selten einen verklärten Blick, scheint dieser Theorieansatz doch ihre besondere Kompetenz zu belegen. Was uns aber in familiengerichtlichen Verfahren interessiert, ist die Qualität von Beziehungen eines Kindes und deren Gestaltbarkeit.
5. Jugendämter und die "freie" Jugendhilfe
Die Varianz der Qualität der Arbeit von Jugendämtern ist erheblich. Man erlebt alles denkbare.
Während sich Eltern im Trennungskonflikt gegen fachlich unangemessene Stellungnahmen von Jugendämtern ggf. wehren können, bekommt die Einschätzung von Jugendämter in Verfahren nach §1666 BGB häufig entscheidende Bedeutung. Tewes (2016 - siehe oben) verweist auf die Neigung von Sachverständigen, den Erwartungen von Jugendämtern gerecht zu werden, um als Gutachter prominent zu bleiben.
Die
Landschaft "freier" Träger der Jugendhilfe
stellt sich zumindest in ländlichen Gebieten oft schwierig dar. Arbeitsbedingungen von Mitarbeitern können häufiger als nicht existenzsichernd - also prekär - verstanden werden. Verbreitet finden sich keine mehrsprachigen Fachkräfte bzw. Dolmetscher. Es fehlen therapeutische und psychotherapeutische Angebote.
6. Das Wechselmodell - weiterhin ideologisch umkämpft
Das war mal wieder ein Meisterleistung deutscher Bürokratie und Politik. Auch die Grünen haben die parteiinterne Männerinitiative gut geblockt. Wobei anscheinend nicht Frauen und Mütter, sondern Professionelle (Rechtsanwälte, Sachverständige) maßgeblichen Einfluss genommen hatten.
Kaum jemand in Deutschland scheint sich der Mühe unterworfen zu haben, durchaus ermutigende Erfahrungen anderer Länder auszuwerten. Hilfsargument war: wir haben keine Erkenntnisse, ob das Wechselmodell als Regelmodell bzw. die gerichtliche Anordung von Wechselmodellen bzw. von paritätischen Betreuungsmodellen auch in Deutschland zu positiven Ergebnissen führt.
Die vom BMFSFJ beauftragte "Petermann-Studie" liegt auf Eis - meine Eindruck: Die Studie war bereits im Ausschreibungstext mit überzogenen und nicht einlösbaren Erwartungen überfrachtet. Die überzogene Erwartung des BMFSF geht aus der Anlage 2 der Ausschreibung: Leistungsbeschreibung vom April 2015 hervor. Es ist mir unverständlich, wie eine systematische und repräsentative Auswertung von Umgangsbeschlüssen erhoben und bewertet werden könnte - und wie betroffene Kinder und Jugendliche - äußerst behutsam, umsichtig und sensibel in einer quantitativ und repräsentiv relevanten Form befragt und also untersucht werden könnten. Nebenbei sollten sodann noch internationale Erfahrungen ausgewertet werden.
Nachtrag: Die Studie ist, nach Überarbeitung durch und mit Sabine Walper (DJI) mit Erstelldatum vom 11.08.2023, inzwischen veröffentlicht worden und steht auf der Website von Projekt Petra zum download bereit: https://projekt-petra.de/de/studie-kindeswohl-und-umgangsrecht.
Mir scheint, dass der vorliegende Forschungsbericht, erschienen 8 Jahre nach Beauftragung, nichts zu den interessierenden Fragestellungen, also insbesondere zur Frage, welche Betreuungsformen sich unter welchen Umständen günstig auf Kinder auswirken, beiträgt. Offenkundige Schwäche ist bereits, dass die Anzahl der befragten Eltern und ihrer Kinder viel zu klein ausgefallen ist (N=490; geplant zumindest N=1.200), um wesentliche Fragestellungen beantworten zu können.
Ein kritischer Kommentar finden sich beim Väteraufbruch: https://vaeteraufbruch.de/kindeswohlstudie/die-studie.
7. Häusliche und sexuelle Gewalt
Vorwürfe und auch strafrechtliche Anzeigen von häuslicher und sexueller Gewalt im Zusammenhang mit familiengerichtlichen Verfahren stellen für Richter und beteiligte Fachkräfte eine erhebliche Anforderung dar, die - so mein Eindruck - oft nicht günstig bewältigt wird. Mal wird das Ausmaß psychischer und physischer Gewalt unterschätzt, ein anderes Mal tragen die Bedenken durch Umgangseinschränkungen und Umgangsaussetzungen zur erheblichen Schädigung von Eltern-Kind-Beziehungen bei, obwohl sich Vorwürfe letztlich, z.B. in langdauernden strafrechtlichen Verfahren, nicht belegen lassen.
Als vorläufiger Schluss …
In eigener Angelegenheit würde ich mal formulieren: Etwas mehr Soziologie und etwas mehr systemisches, familientherapeutisches Denken und Handeln könnten hilfreich sein. Umfangreiche familienberatende Erfahrungen sollten für Sachverständige in familien- und kindschaftsrechltichen Verfahren selbstverständlich sein. Zudem sollten die Fähigkeit und Bereitschaft vorliegen, auch schwierig erscheinenden Menschen mit Wertschätzung zu begegnen und sich um einen verletzungsfreien Umgang zu bemühen.
© Dr. Herwig Grote